Montag, 24. Oktober 2011

Wer atmen will, muss leiden.

Es ist verblüffend, was heut alles möglich ist, und das in so vielerlei Hinsicht. Wir können zum Mond fliegen, wir können auf den Meeresgrund tauchen und wir können mit den Fortschritten der Medizin Leben auf unnatürliche Weise verlängern und verbessern. Ja, wir können sogar schiefe Nasenscheidewände begradigen und Mutter Naturs Pfusch ausbessern. Das ist doch eigentlich eine gute Sache, von der wir Menschen nur profitieren können. Das heißt aber nicht, dass es immer einfach und mit nur einem Fingerschnipp zu erledigen ist.

Die Reise durch meine ganz persönliche Welt der Schmerzen begann vor genau einer Woche. Ich bin im Krankenhaus. An meinem rechten Handgelenk baumelt ein Armband auf dem mein Name, mein Geburtstag, die Station, auf der ich liege, und ein Barcode steht. Verwechslung damit also hoffentlich ausgeschlossen und ich bin froh, dass ich kein Schild mit diesen Infos ans Ohr getackert bekommen habe, wie eine Kuh. Ich weiß, dass es jeden Moment losgehen muss und ich merke, wie ich immer unruhiger werde. Ich weiß, was mir bevorsteht – zumindest rein theoretisch – und ich weiß auch, dass ich nicht der erste Mensch bin, der da durch muss. Trotzdem kriecht die Panik nun immer schneller in mir hoch. Ich fühle mich wie ein Lamm, das nur darauf wartet zur Schlachtbank geführt zu werden. Und ein bisschen ist es ja auch so.

Dann kommt meine Mutter in mein Zimmer und alles fällt von mir ab. Ich bin froh, dass sie da ist, obwohl sie genauso viel Schiss hat wie ich. Sie gibt es nur nicht zu. Einen Augenblick später kommt auch schon die Schwester rein und verabreicht mir etwas, dass mich „ruhiger und ein wenig müde machen“ soll. Aha. Soll mir recht sein. Ich schlucke die Tablette und warte darauf, irgendeine Wirkung zu spüren. Nichts. Meine Trage steht schon vor der Tür. Jetzt geht’s los. Und da ist sie wieder. Hallo Panik. Ich bekomme eins dieser typischen OP-Hemden wie man sie auch aus den unzähligen Ärzteserien kennt und lege mich auf die Trage. Noch hält der Damm. Die Schwester und meine Mutter setzen die Trage in Bewegung Richtung Fahrstuhl. Und jetzt ist alles vorbei. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich weiß eigentlich gar nicht warum. Tief in mir drin, kann ich mir alles ganz rational erklären, aber an der Oberfläche brodeln Panik, ja sogar Furcht, und Aufregung ans Tageslicht. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und versuche tief durchzuatmen.


Ich werde über den Hof geschoben und spühre die kühle frische Herbstluft. Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne scheint und alles wirkt so friedlich. Ein viel zu schöner Tag zum Sterben, denke ich, und beschließe, dass alles gut gehen wird. Ich werde in ein anderes Gebäude und durch zahllose Gänge geschoben. Zwischendrin fahren wir noch zwei Mal mit dem Fahrstuhl. Ich atme weiterhin ruhig und witzele, dass ich froh bin geschoben zu werden, da ich den Weg zum OP niemals allein gefunden hätte. Wie gut ich mich mit meiner vorgetäuschten Coolheit doch selbst reinlegen und etwas beruhigen kann.

Wir erreichen den OP. Mama verabschiedet sich. Jetzt bin auf mich allein gestellt. Aber ich schaffe das und der eine OP vorbereitende Pfleger ist wirklich sehr nett und freundlich. Ich werde in einen Vorraum geschoben und bekomme eine Flexüle gelegt. Mein Hände sind eiskalt, meine Venen verstecken sich ganz tief, als ob sie wüssten, dass ich eigentlich nicht hier sein will. Die OP-Schwester schnauzt mich dafür an. Verwirrt versuche ich mich zu erklären. Interessiert sie nicht.

Panik kriecht wieder an die Oberfläche und sagt kurz Hallo. Ich atme langsam und tief durch und weise sie wieder in ihre Schranken. Die Glasschiebetür geht auf und ich komme in den OP. Sieht aus wie bei Grey’s Anatomy, nur heller, freundlicher, lebensbejahender. Das ist gut. Die Narkoseschwester beginnt indem sie sich kurz vorstellt und mir sagt, was jetzt passiert. Die Narkoseärztin steht an meinem Kopfende. Ihr Gesicht kann ich nicht sehen. Mit russischem Akzent erklärt sie weiter. Danach sehe ich kurz meine Ärztin, die gleich Hand an mich legen wird. Sie sieht freundlich und fit aus. Gut. Das ist beruhigend. Ich bin die letzte auf ihrer Liste. Fünf oder sechs andere hat sie heut schon vor mir operiert und alle leben noch. Auch gut. Ich will ja ihre Statistik nicht versauen.

Immer mehr Menschen betreten nach und nach den OP. Jetzt wird das Narkosemittel gespritzt und es kribbelt leicht brennend meinen Arm hinauf. Ich frage mich, was die alle hier wollen und oh, wer ist der hübsche junge Typ da, der mit Daniel angesprochen wird? Ich frage mich, wieso ich das denke, denn gleich werde ich sowieso regungslos dort liegen und aufgeschnitten. Wahrscheinlich keine gute Basis. So langsam verschwimmt alles. Keiner redet mit mir. Ich versuche mich gegen das Mittel zu wehren. Ich möchte mitbekommen, wie ich einschlafe. Eigentlich bescheuert. Sowas bekommt man ja nicht mit. Alles verschwimmt mehr und mehr und die Welt fängt an zu wanken als wäre die Erde ein Ei und ihre Umlaufbahn eine holprige Landstraße. Ich blinzle ein paar Mal und gebe dann doch auf. Meine Augen wollen einfach nur noch zu sein. Ich versinke im Nichts. 

Als ich langsam wieder wach werde, merke ich nichts. Ich weiß nicht wie spät es ist, ich weiß nicht wo ich bin und ich kann nicht mal einen klaren Gedanken fassen. Irgendwie fühle ich mich als wäre ich mit einem Betäubungspfeil für Großwild abgeschossen worden. So langsam fange ich an, meine Umgebung wahrzunehmen. Mama ist da und hält meine Hand. Mein Hals tut etwas weh. Aber alles in allem fühle ich mich als läge ich in einem großen Watteberg. Alles ist plüschig und dumpf. Ich nehme einige Menschen um mich wahr – zumindest ihre Anwesenheit, nicht aber ihre Gesichter oder Stimmen. An den Weg zurück auf die Station erinnere ich mich auch gar nicht so richtig, nur daran, wie ich von der Liege wieder in mein Bett rolle. In den nächsten Stunden dämmere ich vor mich hin, schlafe ab und zu sogar ganz ein und werde durch das Piepen des Infusionsgerätes geweckt.

Draußen ist es dunkel als ich aufwache. Der Schmerz kommt langsam durch, zunächst erträglich, doch dann schwilt er immer stärker an und pulsiert dann im selben Rhythmus wie mein Blut durch den Kopf. Ich schaue auf die Uhr. Gerade mal kurz nach Mitternacht. Ich versuche weiter zu schlafen, aber es gelingt mir nicht. Die Minuten tropfen schwerfällig dahin. Die Zeit zieht sich unerbitterlich ins Unermessliche wie ein alter ausgelutschter Kaugummi. Ich schaue wieder auf die Uhr. 01:33 Uhr. Oh Himmel, wie soll ich das überstehen. Am liebsten würde ich aufspringen und von den Schmerzen weglaufen, aber mit fehlt sogar die Kraft mich auf die Seite zu rollen und außerdem wurde mir strickte Bettruhe auferlegt. Selbst zur Toilette darf ich nicht allein.

Mal wieder piept das Infusionsgerät. Das Ding hat eine Macke. Wenn die Infusion alle ist, piept es eben. Aber meins ist ein Abgesandter der Hölle und piept gefühlt alle halbe Stunde einfach nur aus Lust und Laune. Noch ein Grund, der das Schlafen – abgesehen von den fast unerträglichen Schmerzen – unmöglich macht. Ich drücke auf die Schwestern-Taste und kurze Zeit später kommt sie auch. Sie stellt das nervtötende Piepen ab und ich nutze die Chance gleich für einen kurzen Ausflug ins Bad. Wieder im Bett döse ich kurz ein. Als ich aufwache und auf die Uhr schaue, ist es gerade mal 02:03 Uhr. Dieses Szenario wiederholte sich in dieser Nacht mehrmals im 30- bis 40-Minuten-Takt. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, mir würde gleich der Schädel wegplatzen.

Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass das Narkosemittel noch immer in kleinen Dosen durch meine Blutbahnen rauschte und mir nur dadurch die kurzen Nickerchen vergönnt waren. Die zweite Nacht brachte ich irgendwie mit noch weniger Schlaf und noch mehr Schmerzen über die Runden. Wie? Ich weiß es nicht. Und ich bin verdammt froh, dass das menschliche Gehirn dieses schöne Feature hat, dass man sich an Schmerzen nicht erinnern kann. Obwohl ich in diesen 2 Tagen fast verrückt geworden bin vor Schmerz und Übermüdung und mir geschworen hab, sowas nie wieder zu machen – was Gott sei Dank auch nie wieder nötig sein wird – habe ich bereits nach einer Woche das Gefühl, dass es gar nicht so schlimm war. (Aber das war es, nur lässt mein Gehirn nicht zu, dass mir das auch im Nachhinein noch so vorkommt.)


Der zweite Morgen brach an. Endlich. Ich weiß nicht, warum ich das so empfinde, aber im Licht ist irgendwie alles besser. Die Zeit verging schneller, die Schmerzen waren etwas erträglicher, auf den Fluren war wieder der tägliche Wahnsinn eingekehrt. Heute wird alles besser. Ich konnte es kaum erwarten, dass es 9 Uhr wurde. Als ich dann irgendwann die Stimme meiner Ärztin auf dem Flur hörte, wurde die Freude immer größer. Ich wusste, es würde nicht angenehm werden, ja eventuell sogar wehtun, aber ich war mehr als bereit. Sie kam herein mit ihrem freundlichen Gesicht. Dann ging alles ganz schnell und sie zog gefühlte zwei Kilo Watte aus meiner Nase. Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Tränen der Freude, der Erleichterung, Tränen, weil es nun mal einfach unangenehm war und in der Nase gezwickt hat. Ich spürte die Wärme die aus meiner Nase strömte und nahm einen tiefen Luftzug durch die Nase bevor alles wieder zuschwoll. Es klang zwar ziemlich komisch – so ähnlich wie dieses typische Predator-Geräusch – aber das war mir vollkommen egal. Endlich war der Druck vom Kopf weg.

Ab da wurde alles besser. Die Schmerzen waren weg. Ich brauchte nicht mal mehr die Schmerzmittel, die ohnehin keine große Hilfe waren, und alles fühlte sich nur noch an, als wäre man richtig böse erkältet. Wie angenehm nach der Tortur der letzten 48 Stunden. Am nächsten Tag wurden dann auch schon die Silikonschienen entfernt und wieder kam mehr Luft durch die Nase. Es dauert ca. 6 Wochen bis alles verheilt ist. Die ersten 2 bis 3 davon darf man nichts tun, das den Puls erhöhen würde. Dadurch würde das Blut mir nur so aus der Nase schießen. Das will keiner sehen.

Der Eingriff ist nun etwa eineinhalb Wochen her. Ich bin immer noch wie erkältet, aber zufrieden. Bereits jetzt kommt mehr Luft durch meine Nase als jemals zuvor. Und wie bereits erwähnt, kann ich mich schon nicht mal mehr an den Schmerz erinnern. Ich weiß, dass es schlimm war und dass ich mir fast stündlich am liebsten selbst die Watte aus der Nase gerissen hätte, damit die Schmerzen endlich aufhören, aber ich habe durchgehalten. Und wenn alles verheilt ist, werde ich sicher froh sein, es über mich ergehen lassen zu haben. Würde ich es wieder machen, wenn es notwenig wäre? Auf keinen Fall!

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